Davongekommen

 

Rede zur Buchpremiere "Davongekommen" am 17. Dezember 2010

Sie wissen es, ältere Menschen erzählen gern von ihrer Kindheit und Jugend. Ob das alles so stimmt bzw. nicht unkritisch beschönigt wird, ist eine andere Frage. Sinnvoll ist es allemal. Heute geht es hier um mehr als das Nacherzählen von Erlebtem im Familien, Freundes oder  Bekanntenkreis.

Uns führt heute ein außergewöhnliches Buch zusammen, um es in die Öffentlichkeit zu begleiten. Sein Titel: "Davongekommen. Bis niemand mehr von uns weiß". Autor ist Dr. Wolfgang Köpp, Jahrgang 1933. Der promovierte Tierarzt hat seit 1971 über Jahrzehnte in Alt Rehse praktiziert. Von 1994 bis 2001 war er Bürgermeister von Alt-Rehse. Sein Wohnort bis heute. Viele kennen den Autor und sein breit gefächertes Werk. Wolfgang Köpp verfasste bis zu "Davongekommen" bereits mehrere autobiographisch geprägte Bücher. So über die Jagd und seine Arbeit als Tierarzt.

Der Tagesspiegel" fragte am 28. November 2010 "Zeit ohne Zeugen" und schrieb unter anderem: "Die Generation der Überlebenden stirbt ebenso wie die der Verbrecher. Nun wird Erinnerung weitergegeben, nicht vererbt. Vermittelte Erinnerung aber ist etwas anderes als gefühlte Erinnerung. So verwandelt das nahe Ende der Zeitzeugenschaft die Gedenkrituale. Die Angst vor falschem Pathos wird bald größer sein als die vor Beschönigung."

Heute und hier geht es um eine besondere Form des Erinnerns an die Vergangenheit. Genauer gesagt: an Kindheit im Nationalsozialismus. Zur Erinnerung an den historischen Hintergrund: "Meine Pädagogik ist hart!" So formulierte Adolf Hitler seine Erziehungsideale. "Das Schwache muss weggehämmert werden. Es wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich ..." Um diese Vorstellung von Pädagogik umzusetzen, wurden unter Hitler die Kindheit und die Jugend durchorganisiert und die Kinder von klein auf für den Kampf und für den Krieg erzogen.

Ich sagte eingangs, dass dieses Buch außergewöhnlich sei. Ein Synonym zu außergewöhnlich ist beeindruckend. Was ist mir in diesem Zusammenhang beim Lesen aufgefallen?

1. Wolfgang Köpp verfolgt von der ersten Seite konsequent sein Schreibziel. Im Sinne von Friedrich Nietzsche will er "das Vergangene zum Leben" zukünftiger Generationen nutzen. Er wählt eine bemerkenswerte Erzählperspektive. Filmleute nennen es die Totale, Schriftsteller möglicherweise das Ganze. Er hält sich bei aller Subjektivität an historische Tatsachen und Zusammenhänge in dieser klaren Darstellung mit tiefgründigen Standpunkten. Dieses "Davongekommen" kann nicht falsch interpretiert werden oder an irgendwelche Ränder der Gesellschaft geschoben werden. Im Unterschied zu historischen Übersichtsdarstellungen reflektiert Wolfgang Köpp, wie sein Umfeld auf politische Entscheidungen reagierte. Zum Beispiel nach dem Angriff auf Rußland.

2. Der Leser erfährt viele Details. So manches entreißt Köpp dem Vergessen. Er entwirft vor den Augen seiner Leser ein Sittengemälde jener dunklen Zeit, leuchtet das Gute wie das Böse aus. Schweres und Unbeschwertes leuten auf. Sein Dorf Harmelsdorf wird durch seine anschaulichen Schilderungen lebendig. Gemeinschaftliches Federlesen, Spinnen und Backen kommt ebenso zurück wie die Kienäpfel als Feueranzünder, die Schiefertafel, der Pommernwall oder der Fliegeralarm. Erziehungkonzepte wie Güte und Strenge bringt Köpp in einen stillen Dialog mit dem Lesepublikum ein. Er frischt viele Details der Alltaggeschichte auf, untersucht präzise Werte wie Kameradschaft, Disziplin und Frieden.

3. Köpp erinnert durch eine unbändige Kraft seiner Sprache und reichhaltige Gedankenfülle. Mit seiner ganz eigenen Sprache zaubert er Atmosphärisches, das im Gedächtnis bleibt. Bilder, Gerüche und Geschmack jener Zeit dringen in die Gedanken und Gefühlswelt der Lesenden. Es entsteht ein berührendes Bild seiner gütigen Großeltern und eine differenzierte Sicht auf Vater und Mutter. Für sie und der Frauen Leistungen im Krieg und Nachkrieg findet er vortreffliche Worte. Schmerzhaft sein Erinnern an den jüdischen Lehrer, der im Herbst 1944 plötzlich weg war. Oder sein Beschreiben, als er nach dem Tod des Kutschers als Zwölfjähriger der älteste Mann auf dem Treck wurde und die Zügel in die Hand nehmen mußte.

„Lasst Euch die Kindheit nicht austreiben“ war die Lebensmaxime des Schriftstellers Erich Kästner. Gut, dass Wolfgang Köpp ihr mit seinem neuen Buch gefolgt ist.

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